Die Geschichte des Steillagenweinbaues
Bereits im frühen Mittelalter zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert wurden die ersten Weinbauterrassen entlang des Neckars angelegt. Die Bevölkerung wuchs und das kostbare Ackerland wurde für den Weinbau tabu. Kein Boden, auf dem Acker-, Garten-, Wiesen- oder Waldbau möglich war, durfte für den Weinbau verschwendet werden. Im 16. Jahrhundert war in Württemberg Weinbau im Flachland durch die Obrigkeit verboten. So wurden die Hanglagen, an denen bislang nur Unkraut und Gestrüpp wuchsen, zu terrassierten Weinbergen kultiviert. Diese mühevolle und zeitraubende Arbeit brachte jedoch auch Vorteile. Denn bald schon erkannten die Weinbauern den Nutzen dieser Hanglagen. Insbesondere die intensivere Sonneneinstrahlung förderte Wachstum und Qualität der dort angebauten Trauben.
So entstanden rund 670 Kilometer Weinbergsmauen für diese terrassierten Steillagen zwischen Plochingen und Kirchheim am Neckar und prägen bis heute das Landschaftsbild am Mittleren Neckar auf beeindruckende Weise.
Es entstand eine einzigartige Kulturlandschaft, wie sie nur an wenigen Orten in Europa in dieser Form zu finden ist. Zusammen mit den Steillagen an Mosel, Mittelrhein und Ahr sind die Württemberger Terrassen an Neckar und Enz sicherlich die beeindruckendsten.
Die steilste Steillage jedoch findet sich im Bühlertal bei Baden-Baden mit einer Hangneigung von 75 Grad. Auch am Main bei Würzburg, an Tauber und Jagst erheben sich Steillagen entlang der Flüsse. Außerhalb Deutschlands gibt es Steillagen in Frankreich im Elsaß und im Rhonetal, in Italien in den Cinque Terre, in der Schweiz im Kanton Waadt und im Wallis, in Österreich in der Wachau und in Teilen Portugals.
Wo auch immer die Steillagen zum Landschaftsbild gehören, sind brachliegende Parzellen ein äußerst unschöner und trauriger Anblick. Schon deswegen ist der Erhalt der Steillagen wichtig und alternativlos.
Die Flüsse Neckar & Enz
Der Neckar ist die Hauptader des württembergischen Weinbaugebiets. Auf 250 Flusskilometern nimmt er seinen Weg vorbei an den Juraschichten der Schwäbischen Alb, berührt südöstlich von Stuttgart das Keuperland und schneidet sich in tiefen Windungen durch den Muschelkalk nach Norden. Je nach Härte und Widerstandsfähigkeit der anstehenden Gesteinsschichten bildeten sich flache oder steilere Hänge aus und so wechseln jetzt weite Talauen mit extremen Prallhängen. Sein Nebenfluss, die Enz, steht ihm in nichts nach. Sie entspringt in Enzklösterle im Schwarzwald und mündet in Besigheim in den Neckar. Auch sie gilt als Vorbereiter der hiesigen Landschaft, die optimal für den Steillagenweinbau genutzt wird.
Zwischen Plochingen und Kirchheim entlang des Neckars und zwischen Vaihingen und Besigheim entlang der Enz prägen diese mittlerweile Jahrhunderte alten terrassierten Weinberge das Bild einer wertvollen Kulturlandschaft.
Für das Mikroklima sind diese beiden Flüsse von größter Bedeutung. Sie reflektieren das Sonnenlicht und leiten es auf die Rebanlagen entlang der Flusshänge um, was die Erwärmung verbessert. Der Reifungsgrad, den Trauben in Steillagen erreichen, ist wesentlich höher als in Flachlagen. Die wärmespeichernden Felsen und Trockenmauern, die günstige Exposition zur Sonneneinstrahlung, die fast in einem Winkel von neunzig Grad auf die Rebanlagen trifft und nicht zuletzt die Reflexion des Wassers, sie zusammen sorgen dafür, dass die Temperaturen in Steillagen um durchschnittlich 5° C höher liegen als in Flachlagen. Diese Wärmegunst verleiht Steillagenweinen ein ganz besonderes Format. Selbst Rebsorten mit eher leichtem Charakter, wie z. B. der Trollinger, erlangen in Steillagen eine fast untypische Dichte.
Flora & Fauna in den Steillagen
Die Kultivierung des ehemals wild bewachsenen Geländes durch die »Weinbauern« schuf die Voraussetzungen für Flora und Fauna, wie sie heute nur noch in unseren Steillagen anzutreffen ist. In den Rebzeilen wurde ein Lebensraum vor allem für wärmeliebende und Trockenheit vertragende mediterrane Pflanzen geschaffen, die sich andernorts beispielsweise gegen starkwüchsige Gräser nicht behaupten konnten. So entstanden rund 670 Kilometer Weinbergsmauern für diese terrassierten Steillagen zwischen Plochingen und Kirchheim am Neckar, die bis heute das Landschaftsbild am Mittleren Neckar auf beeindruckende Weise prägen. Es entstand eine einzigartige Kulturlandschaft, wie sie nur an wenigen Orten in Europa in dieser Form zu finden ist. Zusammen mit den Steillagen an Mosel, Mittelrhein und Ahr sind die Württemberger Terrassen an Neckar und Enz sicherlich die beeindruckendsten.
Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen im zeitigen Frühjahr eröffnet eine Verwandte der Christrose, die Stinkende Nieswurz, als typische Kalkpflanze den Reigen der Vegetation. Auf dem Trockenrasen finden sich Schafgarbe, Flockenblume, Skabiosen, ja sogar Knabenkräuter als Vertreter der Orchideen.
Eine Vielzahl vergessener Gewürz-, Heil- und Färbepflanzen können im und am terrassierten Steillagenweinberg gedeihen. Auf Randflächen wachsen Salbei, Wermut, Lavendel oder Melisse. Ab und zu findet sich auch die Eibischpflanze, aus deren Rhizom ein scheußlich schmeckender aber hervorragend wirkender Hustensaft gewonnen werden kann.
Besonders die Trockenmauern sind ein Paradies für wärmeliebende Kleintiere. Die sonnenbeschienen Mauern erreichen Temperaturen bis zu 70 Grad Celsius und die Ritzen und Hohlräume bilden einen idealen Rückzugsort für Tiere, deren Körpertemperatur von der Außentemperatur abhängig ist, wie beispielsweise die im Flachland so selten gewordene Mauereidechse. Aber auch den zahlreichen Insekten bieten die sonnigen Steilhänge einen idealen Lebensraum. Allen voran den Schmetterlingen. Doldenblütler wie die Wilde Möhre geben Nahrung für den Schwalbenschwanz und gelegentlich sieht man auch das Pfauenauge, Bläulinge sowie Bären- und Eulenschmetterlinge.
Muschelkalk Verwitterungsböden
Die Rebe wird auch als Sprachrohr des Bodens bezeichnet. Das bedeutet, dass die Charakteristik und Einzigartigkeit eines Weines sehr stark vom Boden geprägt ist, auf dem die Reben gedeihen. Die steinsalzreichen, mineralischen Muschelkalkverwitterungsböden sind in erster Linie in Steillagen zu finden und verleihen dem dort reifenden Lesegut einen besonders kraftvollen Charakter. Feingliedrige oder auch voluminöse Noten verbinden sich mit Rauchtönen und verhaltenen Röstaromen. Gerne spricht man dann auch vom »Bodeng’fährtle«, das den Geschmack der Muschelkalk-Weine so unverwechselbar macht.
Dort, wo heute Reben gedeihen und die Trauben für Weine wachsen, war vor vielen Millionen Jahren einst ein Meer. Deshalb hier eine kurze Zusammenfassung wie die Physiognomie der Steillagenweinberge zustande kam: Die Gesteinsformation in den terrassierten Steillagen entlang von Neckar und Enz ist ein Teil der »Oberen Muschelkalkschicht«. Seine Entstehung verdankt der »Obere Muschelkalk« vorwiegend der Ablagerung von Kalkschlamm, die im Erdmittelalter während der Trias-Zeit vor 243 bis 235 Millionen Jahren in einem flachen, warmen Meer entstanden ist. Daraus bildeten sich die härteren Schichten von Kalk und weicherem Mergel. In die feinkörnigen Kalksteine sind immer wieder gröbere Horizonte aus Schalentrümmern eingelagert.
Unter dem »Oberen Muschelkalk« liegt der »Mittlere Muschelkalk«, der in einer Zeit entstand, als das Meer noch vom offenen Ozean abgeschnitten war. In diesem Binnenmeer nahm durch die Verdunstung die Konzentration der im Meerwasser enthaltenen Salze so zu, dass zunächst Dolomit, dann Gips und schließlich Steinsalz ausgefällt wurde. Tektonische Vorgänge brachten die Gesteinsschichten in erdgeschichtlich jüngerer Zeit wieder an die Oberfläche. Der Neckar, der sich zwischen Stuttgart und Neckarelz in den Muschelkalk einschnitt, legte an einem Prallhang - am kurvenäußeren Ufer eines Flusses - oftmals auch wieder Felsen frei.
Sickerwasser und Grundwasser im Neckartal laugten die löslichen Gesteine des »Mittleren Muschelkalks« aus und es kam zu einem allmählichen Absacken. Manchmal bildeten sich sogar Hohlräume. Dadurch gerieten die darüber liegenden harten Kalksteinschichten des »Oberen Muschelkalks« langsam in Bewegung. Gesteinsklüfte weiteten sich im Laufe der Zeit zu Spalten. Auf diese Weise entstanden entlang hangparalleler Klüfte markante, bis zu 10 Meter breite Schluchten. Diese ausdrucksvollen Felsspalten sind in den Felsengärten bei Hessigheim zu bestaunen.
Felsen & Trockenmauern
Trockenmauern finden sich nicht nur in Weinbergen, sondern an vielen Orten quer durch Europa. Jahrhundertelang war das Handwerk des Trocken- oder Feldmauerers fast schon eine Kunstform. Können und Kenntnisse wurden dabei meist von Generation zu Generation überliefert.
Wo immer man auf die beeindruckenden Ergebnisse dieses Handwerks trifft, sind diese von einer besonderen Anziehungskraft und immer wieder bestaunenswert.
In terrassierten Steillagen bildeten und bilden die Trockenmauern die wichtige Basis für den Weinbau indem sie Erosion verhindern und die Bewirtschaftung überhaupt erst ermöglichen. Viele Steillagen haben eine so extreme Hangneigung, dass ohne die angelegten Terrassen eine Bewirtschaftung völlig unmöglich wäre.
Darüber hinaus verstärken die Steine die Sonneneinstrahlung und speichern am Tag Wärme, die sie abends und in der Nacht an obere Erdschichten wieder abgeben und so die nächtliche Abkühlung vermindern. Terrassierte Steillagen sind bis zu 5° Celsius wärmer als vergleichbare Weinbergslagen ohne Steinmauern.
Die Steine für diese Trockenmauern stammten hauptsächlich aus örtlichen Steinbrüchen. Aber auch Lesesteine wurden verwendet und kamen vor allem bei der Hintermauerung zum Einsatz. Die Vorderseite der Mauer, auch Ansichtsseite genannt, bildet zusammen mit dem wichtigen Hintergemäuer und den Durchbindersteinen, die die Ansichtsseite mit dem Hintergemäuer verbinden, die Trockenmauer.
Trockenmauer hat vor allem statische Aufgaben zu erfüllen. Sie muss den Erddruck des Hanges abfangen und über das Fundament in den Untergrund ableiten. Deshalb ist auf eine spezielle Schrägstellung der Mauer, auch Anlauf genannt, zu achten wie auch auf eine gute Verzahnung der Steine untereinander. Auch wenn es verwundern mag, Trockenmauern haben sich in Weinbergen wegen ihrer Wasserdurchlässigkeit als stabiler erwiesen als mit Mörtel verfugtes Mauerwerk. Eine sorgfältig errichtete Trockenmauer kann 100 Jahre und mehr überdauern. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass das Ausbessern von Trockenmauern nicht nur einen hohen körperlichen Einsatz erfordert, sondern auch viel Erfahrung und handwerkliches Können im Umgang mit Natursteinen bedingt. In den letzten Jahrzehnten ist ein entsprechender Wissenstand leider mehr und mehr verlorengegangen.
Wo sich Flüsse in die Gesteinsformationen des Muschelkalks einschnitten, legten sie bisweilen auch wieder große Felsflächen, wie beispielsweise die Felsengärten zwischen Hessigheim und Besigheim, frei. Diese Felsflächen speichern natürlich genauso die Wärme des großflächig auftreffenden Sonnenlichts und sorgen ihrerseits für eine konstant erhöhte Temperatur in der unmittelbaren Umgebung.
Weinbergsarbeit in den Steillagen
Die Arbeiten in den Steillagenweinbergen unterscheiden sich nicht von denen in Flachlagen. Der Rebschnitt im Winter, das Biegen der Ruten im beginnenden Frühjahr, Begrünungs-Management, Düngen, Pflanzenschutz, Laubarbeiten von Juni bis August, was die Durchlüftung der Rebanlagen fördert und so indirekt Pilzerkrankungen vorbeugt, Ertragsreduzierung, bei der unerwünschte Trauben entfernt werden, damit sich die verbleibenden besser entwickeln können und zuletzt die Weinlese.
Der große, markante Unterschied jedoch ist, dass alle diese Arbeiten nur von Hand erledigt werden können. Kommen in flachen Rebanlagen immer mehr Maschinen zum Einsatz, so ist in den Steillagen nur der Mensch gefordert. Lediglich vereinzelt installierte einschienige Zahnradbahnen, sogenannte Monorackbahnen, stellen zumindest als Transportmittel eine gewisse Hilfe dar.
Die extremen Hangneigungen und die sehr schmalen Weinbergsgestaffeln fordern bei allen Tätigkeiten einen hohen physischen Tribut, der mit dem Arbeitsaufwand in gewöhnlichen Weinbergen nicht zu vergleichen ist. Die nackten Zahlen sind hierfür ein Beweis: Für die Bewirtschaftung eines Hektars braucht ein Rebenbesitzer in der Ebene zwischen 250 und 400 Stunden jährlich. Um die gleiche Fläche in Steillagen zu bearbeiten, bedarf es wenigstens 1200 Stunden jährlich.
Nicht außer Acht lassen darf man dabei, dass die Arbeiten in Steillagen nicht nur schweißtreibender, sondern auch wesentlich gefährlicher sind.
Das erfuhr schon der Apotheker und Weinfachmann Johann Philipp Bronner (1792–1864) aus dem badischen Wiesloch am eigenen Leibe, was er mit voller Hochachtung wie folgt formulierte:
»….ich habe mit dem Gradbogen ein Gestäffel, das gerade über die Felsen den Berg hinauf zieht, gemessen, welches 47 Grad hatte. Dies Gestäffel, das noch dazu baufällig ist, läuft so über die schauderhaften Felspartien weg, dass ich nicht begreifen kann, wie Leute mit Lasten auf dem Rücken nur solche Steigen begehen können. Ich bestieg selbst ein festes, neu angelegtes Gestäffel von 45 Grad. Als ich aber etwa 100 Staffeln zurückgelegt hatte, so wurde mir so unbehaglich, der ich sonst nicht schwindlich bin, dass ich umkehren musste«.
Für Weinbergsbesitzer in Steillagen kommt natürlich von Zeit zu Zeit noch eine weitere Aufgabe zusätzlich zu den reinen Rebstockarbeiten hinzu: das Erhalten der Trockenmauern. Diese Arbeit ist natürlich noch anstrengender und kraftraubender als die Arbeiten zur Bewirtschaftung. Nicht nur, dass die Natursteine in reiner Handarbeit bearbeitet bzw. behauen werden, auch der Transport der zentnerschweren Quader auf dem Rücken bis zum Bestimmungsort stellt einen ungemeinen Kraftakt dar. Rechnet man diese Arbeiten zum Aufwand dazu, der für einen Hektar Steillagenweinberg übers Jahr erbracht werden muss, so werden die oben erwähnten 1200 Arbeitsstunden natürlich weit überschritten.